Enteignungsentscheidung

von Felix Gräfenberg

Artikel 27 der mexikanischen Verfassung von 1917 sah die Verstaatlichung der Erdölindustrie vor. Verschiedene Faktoren des politischen Systems Mexikos ließen es zu, dass die vorgesehene Enteignung lange Zeit nicht Inhalt politischen Entscheidens wurde. Schließlich waren es nicht verfassungsrechtliche Probleme, sondern außen- und sozialpolitische Strukturen, die einen diesbezüglichen Entscheidungsbedarf konstituierten und eine ebensolche Entscheidung herbeiführten.

Verfassungen als Entscheidungsprämisse und Herausforderung

Verfassungen stellen Entscheidungsprämissen politischer Systeme dar. Sie strukturieren Entscheidungsprozesse und können in gewissem Maße Ziele vorgeben – ohne jedoch die Entscheidungen, also die politischen Programme an sich schon zu determinieren. Verfassungsänderungen oder gar die Setzung einer neuen Verfassung stellen somit die entscheidenden Akteure vor die Herausforderung, entsprechende policies zu formulieren und zu implementieren. Sie schaffen Entscheidungsbedarf.

Die Verfassung von 1917

Vor eben jenem Problem standen ab 1917 die Präsidenten Mexikos: Im Rahmen der Mexikanischen Revolution, die mit dem Sturz des langjährigen Präsidenten Porforio Díaz 1910 ihren Anfang nahm, trat im Dezember 1916 eine Verfassungsgebende Versammlung zusammen. Diese verabschiedete 1917 eine der zu diesem Zeitpunkt wohl progressivsten Verfassungen der Welt. Neben der Neureglung der Besitzverhältnisse von Boden und Bodenschätzen (Art. 27) enthielt sie auch klare Vorgaben zu Arbeitnehmerrechten, wie Koalitionsfreiheit, Streikrecht und dergleichen mehr (Art. 123). Die Forderungen verschiedener Revolutionsgruppen hatten somit Verfassungsrang erhalten. Sie stellten nicht nur einen Anker für künftiges policy making dar, sondern enthielten ein klares Reformmandat.

Abschnitt VI des Artikel 27 und seine Hintergründe

Gerade Artikel 27 – mit Abstand der längste Artikel der neuen Verfassung – sorgte in hohem Maße für Reformbedarf. In großen Teilen enthielt er die Forderungen der revolutionären Bauern, die die Macht- und Besitzverhältnisse der quasi-feudalen Großgrundbesitzer zu Gunsten kleiner Bauern(kollektive) verschieben und so die Arbeitsverhältnisse letztgenannter verbessern sollten. Darüber hinaus manifestierte Abschnitt VI aber auch den Besitzanspruch des mexikanischen Staats an sämtlichen Bodenschätzen.

Dieser richtete sich vornehmlich gegen die ausländische, insbesondere die US-amerikanische Erdölindustrie und lässt sich als Folge der vorrevolutionären Wirtschaftspolitik verstehen: Bereits der Ausbau eines Eisenbahnnetzes in Mexiko als einer der ersten industriellen Modernisierungsschübe folgte vornehmlich US-amerikanischen Zielen und beförderte mehr die Exportwirtschaft Europas und der USA als die heimische Wirtschaft, da im Wesentlichen die für den Eisenbahnbau benötigten Industriegüter von dort importiert wurden. Die Situation im Bereich der Erdölförderung stellte sich nicht besser dar: Zwar wurden unter Diáz ausländische Investoren bewusst gefördert, um die Industrialisierung in Mexiko voranzutreiben; tatsächlich wirtschafteten sich die Investoren, die nicht nur Konzessionäre, sondern gar Eigentümer der Erdölfelder waren, und die alten Eliten Mexikos vorrangig in die eigene Tasche und exportierten überwiegend ins (industrialisierte) Ausland, so dass für die mexikanische Industrie wenig vom schwarzen Gold übrig blieb. Gleichzeitig wurden nahezu alle gut bezahlten und Schlüssel-Positionen von Europäern und US-Amerikanern besetzt, so dass auch von den überdurchschnittlichen Löhnen wenig bis nichts bei den Mexikanern selbst ankam.

Nicht-Entscheiden im Präsidialsystem

Tatsächlich änderte sich hinsichtlich der Erdölindustrie wenig. Es wäre Präsident Venustiano Carranzas (1914-1920) Aufgabe gewesen, eine entsprechende Politik zu implementieren. Allerdings vertrat er bereits in der Verfassungsgebenden Versammlung eher sozial-konservative Positionen, die sich damals nicht hatten durchsetzen lassen. Die (verfassungsmäßige) Machtfülle, mit der er als Präsident ausgestattet war, sowie seine weitestgehende Unabhängigkeit vom Parlament machten ihn zu einem institutionalisierten Veto-Spieler[1] bereits in der Phase des agenda settings[2]. Ohne politischen Willen des Präsidenten war die Enteignung der Erdölindustrie trotz formellem – qua Verfassung – verbrieftem Entscheidungsbedarf nicht einmal entscheidbar.

Politisches Erbe als Grundlage des Nicht-Entscheidens

1920 löste Álvaro Obregón Carranza an der Spitze des Staates ab. Theoretisch stand Obregón noch mehr als sein Amtsvorgänger unter Druck, Artikel 27 der Verfassung umzusetzen und die Enteignung der ausländischen Erdölunternhemen zu forcieren; hatte er doch diesen Artikel 1916/7 gegen Carranza und andere gemäßigte Akteure mit durchgesetzt. Tatsächlich änderte sich auch unter seiner Präsidentschaft und der seiner ideologisch ähnlich aufgestellten Nachfolger wenig. Bereits kurz nach dem Inkrafttreten der Verfassung, noch unter Carranza, hatten sich die Regierungen des Vereinigten Königreichs und der USA hinter die im jeweiligen Staat beheimateten Erdölunternehmen gestellt. Nachdem nun Obregón das politische Erbe Carranzas angetreten hatte, stand er vor der Herausforderung, unter dem Eindruck eines weitreichenden Embargos die Beziehungen zu den USA wieder zu normalisieren. Ein Forcieren der Enteignung wäre hier kontraproduktiv gewesen. Die USA konnten somit durch mögliche Sanktionen de facto als Veto-Spieler im politischen System Mexikos auftreten. Für Obregón stellte die diesbezügliche Politik seines Amtsvorgängers gewissermaßen einen Anker dar – Carranza hatte einen status quo etabliert, der die Messlatte für Obregóns Politik denkbar tief legte. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass es mit der Zeit und zunehmenden Stabilisierung immer opportuner wurde, den einmal eingeschlagenen Pfad bezüglich der Rohstoffpolitik weiter beizubehalten. Je länger sich das System bewährte und somit verfestigte, umso aufwendiger und folglich unwahrscheinlicher wurde es, den Pfad zu verlassen. Der Rahmen, in dem Obregón und seine Nachfolger agierten, machte also die Umwandlung des theoretischen, in der Verfassung festgeschriebenen Entscheidungsbedarfs zu einem praktischen, auf der politischen Agenda stehenden Problem kostenaufwendig und verhinderten somit ebenjene Transformation.

Policy changes und opportunity windows

Dennoch kam es 1938 unter der Präsidentschaft Lázaro Cárdenas, nach 21 Jahren unvollendeter Verfassung, doch noch zur Enteignung der ausländischen Erdölindustrie und der Verstaatlichung der Erdölfelder. Betrachtet man diesen Politikwechsel genauer, war es wohl weniger Cárdenes Bereitschaft, die Kosten für ein Ausbrechen aus dem eingeschlagenen Pfad in Kauf zu nehmen, sondern es waren Veränderungen im strukturellen Setting, die die Enteignungsfrage wieder auf die politische Agenda brachten und so ganz praktisch Entscheidungsbedarf generierten: bis in die 1930er Jahre nahm die Industrialisierung Mexikos und somit der Bedarf an fossilen Brennstoffen der heimischen Industrie stetig zu. Zu der Unzufriedenheit über die Privilegierung der ausländischen Unternehmen wuchs nun auch der Unmut der mexikanischen Wirtschaft an deren, auf Export ausgerichteten Vertriebsstrategien. Gleichzeitig fing Artikel 123 der Verfassung zunehmend an zu wirken, so dass Gewerkschaften ab den 1930er immer stärker als ernstzunehmende gesellschaftspolitische Akteure auftraten. Zudem hatten sich mittlerweile die Beziehungen zu den USA zumindest soweit wieder normalisiert, dass eine Invasion nun nicht mehr wie ein Damoklesschwert über den Entscheidungen der mexikanischen Regierung schwebte. Zu guter Letzt verfügte Mexiko mit Cárdenas seit 1934 über einen Präsidenten, dessen politische Agenda sich sichtlich den Ideen der Revolution verpflichtete. Nachdem die Erdölunternehmen im Streit mit der 1935 gegründeten Gewerkschaft der Erdölarbeiter weder das Ergebnis des Schiedsverfahrens des zuständigen Bundesrats noch des Verfassungsgerichts akzeptierten, lag es nun an Cárdenas für Klarheit zu sorgen – wobei die Enteignung eine Möglichkeit war, aber eben nicht alternativlos. Nach gescheiterten Gesprächen entschied er letztlich unter Rückgriff auf die Verfassung, ohne jedoch Artikel 27 explizit heranzuziehen, zu Gunsten der Gewerkschaft und der nationalen Wirtschaft für die Enteignung. Die Nichtanerkennung des verfassungsgerichtlichen Urteils und später die Ablehnung von Gesprächen seitens der Erdölunternehmen öffnete somit ein opportunity window[3], das eine Entscheidung seitens der Politik erforderlich machte. Die advocacy coalition[4] von Industrie und Gewerkschaften – und somit wichtigen gesellschaftspolitischen Akteuren Mexikos – machte eine Entscheidung zu Ungunsten der ausländischen Industrie zudem opportun. Schließlich machte aber das Wegfallen von Veto-Spielern – insbesondere jener, die im Interesse dieser Unternehmen agierten – eine so geartete Entscheidung erst möglich.

[1] Der Begriff des Veto-Spielers bezeichnet Akteure, die innerhalb des Entscheidensprozesses gegen ihnen unliebsame Alternativen ein Veto einlegen können. Ob, inwiefern, wie und in welchen Phasen des Prozesses sie vorhanden und tatsächlich ins Entscheiden involviert sind, kann die jeweilige Kultur des Entscheidens maßgeblich prägen.

[2] Agenda setting bezeichnet eine bestimmte Phase innerhalb des policy cycles (politisches Entscheiden und seine Umsetzung wird hierbei als zyklischer, bestimmte Phasen durchlaufender Prozess verstanden). Sie ist dem policy making, also der konkreten Politikgestaltung, vorgelagert und kann – im Sinne des SFB – als Entscheidungsentscheidung verstanden werden.

[3] Dem Konzept des opportunity windows liegt die Annahme zugrunde, dass agenda setting nicht selbstverständlich und ständig möglich ist, sondern in hohem Maße veraussetzungsvoll und abhängig von der Gleichzeitgkeit spezieller Umweltfaktoren. Sind die äußeren Rahmenbedingungen so, dass ein bestimmtes politisches Problem auf die Agenda gesetzt werden kann, spricht man von einem opportunity window.

[4] Treten verschiedene (relevante) Akteure/Akteursgruppen (ungeachtet ihrer jeweiligen Motivation und ihrer Kooperation untereinander) für eine bestimmte Politik ein, wird von einer advocacy coalition gesprochen. Sie können je nach Umständen Entscheidensbedarf generieren und/oder dafür sorgen, dass oportunity windows tatsächlich genutzt werden, und somit Entscheiden wahrscheinlicher machen.

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