„Du entscheidest über die Zukunft dieses Menschen“ – Konvertiten vor der spanischen Inquisition und dem deutschen BAMF

Du Entscheidest über die Zukunft dieses Menschen. BAMF-Mitarbeiter am Computer. (c) HANFGARN & UFER Filmproduktion
(c) HANFGARN & UFER Filmproduktion

von Sebastian Rothe

Was haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die spanische Inquisition gemeinsam? In beiden Fällen handelt es sich um staatliche Behörden, die von Amts wegen über den rechtmäßigen Glauben von Individuen entscheiden. Genauer: Sie entscheiden darüber, wer ein aufrichtiger Christ ist und wer nur zum Schein konvertierte. Und die Parallele geht noch weiter: So hängt von der Entscheidung, die die jeweilige Behörde über die Aufrichtigkeit der Konversion eines Individuums zu treffen hat, seine soziale Exklusion oder Inklusion in das Gemeinwesen ab; bisweilen sogar das Leben des Betreffenden. Kaum zu glauben? Kaum zu glauben, dass in Deutschland, dass in einem modernen, europäischen Rechtstaat, in dem Religionsfreiheit gilt, so etwas möglich ist.

Nun ist es natürlich keineswegs so, dass sich der deutsche Staat als Glaubenshüter aufführen wollte. Er gerät quasi ungewollt in diese Position, weil die Konversion zum Christentum in asylrechtlicher Hinsicht ein klassischer Nachfluchtgrund sein kann. In einigen muslimischen Ländern, vor allem Afghanistan und Iran, steht Apostasie, also der  Abfall vom rechten Glauben, unter Strafe, so dass Asylbewerbern, die aus diesen Ländern nach Deutschland geflohen sind und sich anschließend hier haben taufen lassen, bei einer Rückkehr Gefängnis oder gar der Tod droht. Es geht also um die Pflicht des deutschen Staates, Konvertiten vor den Inquisitoren unserer Tage zu schützen, die nicht im BAMF sitzen, sondern in afghanischen oder iranischen Gerichten; zu schützen sind aber eben nur ‚echte‘ Konvertiten – und da liegt die Parallele zur Situation in Kastilien vor fünfhundert Jahren.

Angezweifelte Konversionen

Denn heute wie damals sehen sich Konvertiten dem Vorwurf ausgesetzt, sie hätten sich nicht aus religiöser Überzeugung taufen lassen, sondern allein um sich Vorteile zu verschaffen. 1391 fanden in vielen Städten der iberischen Halbinsel Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt, in Folge derer es zu Massenkonversionen kam. Ob diese freiwillig oder unter Zwang vollzogen wurden, ist umstritten;  jedenfalls verursachten sie einen gesellschaftlichen Wandel, da nun Konvertiten jüdischer Herkunft öffentliche Ämter bekleiden, eine kirchliche Laufbahn einschlagen, Universitäten besuchen und in christliche Familien einheiraten konnten. Dieser soziale Aufstieg brachte in einigen Kreisen der Bevölkerung Neid hervor und es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen, die letztlich zur Gründung der Inquisition führten, deren Aufgabe es war, angesichts eines weitverbreiteten Generalverdachts gegen Neuchristen und ihre Nachkommen aufrichtige Konvertierte von jenen zu unterscheiden, die heimlich an ihrem jüdischen Glauben festhielten.[1]

Auch wenn der STERN von „Massentaufen“ spricht – so der Titel eines Artikels über eine öffentliche Taufe von 80 Personen in einem Hamburger Park an Christi Himmelfahrt 2016[2] –, ist das Ausmaß der Konversionen in Deutschland mit der Situation im mittelalterlichen Spanien sicherlich nicht vergleichbar – weder hinsichtlich ihrer Anzahl in Relation zur Gesamtbevölkerung,[3] noch hinsichtlich des Grades der öffentlichen Aufmerksamkeit. Schließlich sei ja die „Mutter aller politischen Probleme“ die Migration, so Innenminister Horst Seehofer im September 2018,[4] und nicht die Konversion. Dass das Thema dennoch von gewisser Relevanz ist, zeigt, dass die Fachtagung der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD im Jahr 2018 in Münster unter dem Titel „Konversion zum Christentum im Kontext des Asylverfahrens“ stattfand.[5]

Die im STERN-Artikel beschriebene Reaktion der Bevölkerung auf die öffentliche Taufe in Hamburg hätte auch aus dem Spanien des 15. Jahrhunderts stammen können: „Passanten bleiben stehen und beäugen voller Misstrauen das Geschehen. ‚Das ist doch lächerlich. Wem wollen die hier eigentlich was vormachen‘, murmelt eine ältere Frau vor sich hin.“[6] Hier wird spontan ein Generalverdacht gegen alle Konvertiten muslimischer Herkunft geäußert, der jeglicher Grundlage entbehrt.

Mit Erving Goffman[7] könnte man der Frau sogar recht geben: Denn die Taufe kann wie jedes soziale Handeln als Schauspiel aufgefasst werden; sie ist der performative Akt, durch den eine in einem längeren sozialen Prozess getroffene Entscheidung nach außen dargestellt und sozial wirksam wird. Die Taufe wird als Zäsur in der Biographie gedacht, die das alte vom neuen Leben unterscheidet.[8] Der Konvertit muss sich jedoch erst bewähren und seine getroffene Entscheidung im Handeln umsetzen. Denn die mit der Entscheidung ausgeschlossene Alternative bleibt immer noch als Handlungsoption bestehen. Genau dieser Umstand verursacht Zweifel an der Entscheidung der Konversion.

Entscheidende Qualifikationen

Inquisitoren sowie BAMF-Entscheiderinnen und Entscheider hegen grundsätzlich und systematisch diesen Verdacht gegenüber Konvertiten, an denen es ist, das Gegenteil zu beweisen. Das gehört zur Kultur des Entscheidens. Allerdings soll das nicht heißen, dass nicht die ein oder andere Entscheiderin bzw. der ein oder andere Entscheider persönlich anders oder differenzierter darüber denkt und handelt. Nichtsdestotrotz sehen sich alle mit derselben Frage konfrontiert: Wie soll man über die Aufrichtigkeit einer Konversion entscheiden? Und wer ist dafür qualifiziert, eine solche Entscheidung zu treffen?

Nun könnte man annehmen, dass eine theologische Expertise nützlich wäre. Die Ansichten von BAMF und Inquisition über die notwendige Qualifikation für diese Aufgabe sind verblüffend ähnlich. Hier wie dort gilt ein abgeschlossenes Bachelorstudium als Mindestvoraussetzung. Während beim BAMF von vorneherein keine Theologen als Entscheider eingestellt werden[9], gelten in der spanischen Inquisition Theologen auf dem Inquisitorenposten bereits Ende des 15. Jahrhunderts als verzichtbar; die Mehrheit von ihnen waren Juristen, und zwar mit Spezialisierung im kanonischen Recht. Und das nicht ohne Grund, war doch die zu entscheidende Frage keine theologische, sondern eine  juristische: Ist der Angeklagte der Häresie gemäß dem kanonischen Recht schuldig oder nicht schuldig? Und auch der BAMF-Entscheider hat in erster Linie eine juristische Entscheidung zu treffen. Dementsprechend sollten Bewerber nach der offiziellen Stellenausschreibung vom Januar 2018 neben dem Wunsch, „mit Menschen [zu] arbeiten“, vor allem Interesse an „asylrechtliche[n] Zusammenhänge[n]“ mitbringen.[10] Fachkenntnisse sind jedoch anders als noch vor fünfhundert Jahren nicht gefragt.[11] Ebensowenig scheint Erfahrung von besonderer Wichtigkeit zu sein, entscheiden doch neu angestellte Entscheider, die frisch aus der vor Kurzem von drei Monaten auf vier Wochen reduzierten Grundausbildung kommen, ab ihrem ersten Arbeitstag allein.[12]

Symbolbild Entscheiderinnen und Entscheider beim BAMF
Quelle: BAMF

Untersuchen – (Beraten) – Entscheiden

Der Inquisitor war kein einsamer Entscheider. Er musste in jedem einzelnen Fall einen Konsens mit seinem Kollegen im Inquisitorenamt und dem Vertreter des Bistums finden und sich mit externen Gutachtern beraten. Die Berater der Inquisitoren kamen aus dem lokalen Domkapitel, der königlichen Justiz oder arbeiteten als Juristen; unter ihnen befanden sich auch Theologen. Die Berater des BAMF kommen von McKinsey und raten, einsam zu entscheiden, ohne den Antragsteller persönlich kennengelernt zu haben. Im Rahmen des Verfahrens der spanischen Inquisition hatten die externen Gutachter die Möglichkeit, den Angeklagten zu verhören, selbst wenn zuvor die Beweisaufnahme schon abgeschlossen worden war, um sich selbst ein Bild von der Person zu machen, über die sie entscheiden.

Dank McKinsey können die Entscheider des BAMF ihrem Namen nun ‚voll‘ gerecht werden, weil sie nicht mehr als „Vollentscheider“ sowohl anhören als auch entscheiden müssen.[13] Dies gehört zum McKinsey-Plan zur Optimierung der Arbeitsleistung der Behörde, die im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise vom Herbst 2015 politisch stark unter Druck geraten war.[14] Die Trennung von Anhören und Entscheiden stößt unter erfahrenen Entscheidern aber auch auf Kritik: „Sie sagen, wer keine Nachfragen stellen kann, kann auch keine Entscheidungen treffen.“[15] Aus entscheidungstheoretischer Hinsicht haben die Berater von McKinsey gar nicht so Unrecht, denn bekanntlich dauert der Prozess des Entscheidens desto länger, je mehr Informationen berücksichtigt werden – ein Grund, warum die Mühlen der Bürokratie so langsam mahlen. Diesem Vorwurf der Verschleppung von Prozessen sah sich auch die kastilische Inquisition ausgesetzt; die Kritik war so laut, dass die Behörde beinahe die ersten zehn Jahre nicht überstanden hätte. Die Reaktion der spanischen Inquisition folgte jedoch einer anderen als der McKinsey-Logik: Je sicherer die Inquisitoren sich fühlen, desto schneller können sie Prozesse entscheiden; und sicherer fühlen sie sich, je weniger sie allein zu entscheiden haben.[16]

Was man daher wohl eher nicht auf dem Schreibtisch eines spanischen Inquisitors gefunden hätte, ist der folgende Satz: „Du entscheidest über die Zukunft dieses Menschen.“ Ein Zettel mit eben dieser Aufschrift klebt an dem Monitor eines BAMF-Entscheiders aus Bingen, dessen Arbeitsalltag in einem ZDF-Dokumentarfilm von 2017 begleitet wird.[17] Der Satz korrespondiert mit dem bereits aus der Berufsbezeichnung abgeleiteten Selbstverständnis: Der Entscheider entscheidet. Man könnte ja auch annehmen, dass der Antragsteller selbst über seine Zukunft entscheidet – und zwar mit der Art, wie er argumentiert und sich während der Anhörung präsentiert. Dieser Logik folgt nämlich die inquisitorische Kultur des Entscheidens: Die Entscheidung hat bereits der Angeklagte getroffen, der – falls sich herausstellt, dass er tatsächlich ein Häretiker ist, – in dem Moment über seine Zukunft entschieden hat, in der er sich einer Irrlehre anschloss oder sich auf andere Weise von Gott im Sinne der katholischen Glaubenslehre abwandte. Die Aufgabe eines Inquisitors ist es lediglich, zu inquirieren, das heißt Untersuchungen anzustellen – und zwar solange, bis er die Wahrheit gefunden hat; dass er bei dieser Wahrheits- und Urteilsfindung jedoch auch entscheiden muss, dass es keinen Fall geben kann, wo Gesetz und Tatbestand einhundertprozentig korrespondieren, dass also sein Urteil immer auch hätte anders ausfallen können, das wird durch die Selbstbezeichnung als ‚Inquisitor‘ verschleiert.

Wie selbstbewusst dagegen die Entscheider des BAMF, die aus ihrer primären Aufgabe keinen Hehl machen! Für das Gewissen der Entscheider kommt die verordnete Arbeitsteilung vielleicht gerade recht, hat doch der Soziologe Heinrich Popitz festgestellt: „Je geringer in arbeitsteiligen Organisationen der Anteil des einzelnen wird, je mehr seine Zuständigkeit zusammenschrumpft, umso weniger empfindet er sich als ein zuständig, ein verantwortlich Handelnder.“[18] Neben dem politischen Druck, schnelle Entscheidungen zu produzieren, und der mangelnden Erfahrung der vielen neu eingestellten Entscheider mag dieser Umstand ebenfalls dazu beitragen, dass nicht nur die Anzahl der Ablehnungen, sondern zugleich auch die der Klagen vor den Verwaltungsgerichten gegen diese Entscheide gestiegen ist.[19]

Nun bedeutet das nicht, dass den Inquisitoren keine Verantwortung zugesprochen worden wäre, gewissenhaft zu urteilen. Gerade aus der Gewissheit, dass am Ende aller Zeiten Gott über die Menschen richtet, ergab sich die besondere Verantwortung der Inquisitoren, die in jedem Urteilstext zum Ausdruck kommt: „Gott vor Augen habend“[20] erteilten die Inquisitoren das Urteil, was eine Referenz an die Vorstellung darstellt, dass auch die Inquisitoren sich beim Jüngsten Gericht vor Gott zu verantworten und daher nach besten Wissen und Gewissen zu urteilen haben.

Zweifelhafte Entscheidungen

Aber wie erkennt man einen Häretiker? Wie erkennt man jemanden, der nur zum Schein konvertierte? Nun könnte man annehmen, dass sich hierin die Methoden des BAMF und der Inquisition fundamental unterschieden. Schließlich sind sich Vertreter der Kirchen und das BAMF einig darüber, dass es kein „Glaubensexamen“[21] geben darf – eine klare, wenn auch nicht explizit geäußerte Abwendung von den Praktiken der Inquisition. In der Praxis sieht das zuweilen jedoch anders aus: Im Frühjahr 2017 wurde das BAMF von Vertretern der evangelischen Kirche und der Grünen scharf kritisiert, trotz der erklärten Absicht „Glaubensprüfungen“ vorzunehmen.[22] Hintergrund der Debatte war das Bekanntwerden eines  Falles, in dem die Namen der Söhne aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn abgefragt wurden. Dass ihre Namen im Neuen Testament gar nicht erwähnt werden, ist dabei nur sekundär; im Kern geht es darum, ob ein Beamter bestimmen darf, welches bzw. wie viel Wissen ein gläubiger Christ haben muss.

Eine Kompetenzüberschreitung ganz anderer Art, ja einen „skandalöse(n) Übergriff des Staates in Glaubensfragen“[23] stellt der Fall eines Ablehnungsbescheides dar, in dem religionskundlich argumentiert wird, die Sündenvergebung sei kein hinreichender Grund für eine Konversion zum Christentum. Auch wenn der Verfasser einer solchen Aussage vor fünfhundert Jahren auf dem Scheiterhaufen gelandet wäre, so zielt doch die Kritik hier vielmehr auf die Missachtung der Trennung von Staat und Kirche.

Beide Konflikte fußen in der funktionalen Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft: Die Deutungshoheit über Fragen des Glaubens kommt allein Vertretern der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu. Das wesentliche Charakteristikum der spanischen Inquisition war hingegen, dass es sich insofern um eine staatliche Behörde handelte, als die Monarchen die Inquisitoren ernennen konnten und diese nicht zwingend dem geistlichen Stand entstammen mussten; unumstritten war dies nicht, kam es in den ersten Jahren doch um jenes Recht auf Ernennung der Inquisitoren zu einem Streit zwischen Papst und Monarchie, in dem sich diese schließlich durchsetzen konnte.

Beim BAMF fließt nun theologische Expertise in Form von pfarramtlichen Bescheinigungen über das Engagement des Antragstellers in seiner Gemeinde in den Entscheidensprozess ein.[24] Doch diese Expertengutachten würden nicht berücksichtigt, klagt Gottfried Martens, Pfarrer an der freikirchlichen[25], evangelisch-lutherischen Dreieinigkeits-Gemeinde in Berlin-Steglitz, der „größten Konvertiten-Gemeinde in Deutschland“[26]. Inquisitoren sowie BAMF-Entscheider stützen sich bei ihrer Entscheidung vornehmlich auf die Informationen, die durch Anhörung des Antragstellers bzw. Verhör des Angeklagten gewonnen werden.[27] Die Prüfung der Glaubwürdigkeit erlernen die BAMF-Entscheider in sogenannten „Glaubhaftigkeitsseminaren“[28]; die Inquisitoren konnten sich auf andere Inquisitoren stützen, die ihre Erfahrungen diesbezüglich in Handbüchern für Inquisitoren niedergeschrieben hatten.[29]

Während damals Menschen, die der psychischen und physischen Gewalt der Folter und ihrer Androhung standhalten konnten und konsequent bei ihrer Aussage blieben, größere Chancen hatten, dem Scheiterhaufen zu entgehen, sind heute „eloquente Flüchtlinge, die ihren Wechsel zum Christentum gut begründen können, klar im Vorteil.“[30] Pfarrer können in dieser Hinsicht ganz anders über ihre Gemeindemitglieder urteilen. Doch auch sie geben zu, dass selbst sie als Pfarrer und Theologen nicht immer sicher sein könnten, ob jemand wirklich glaube. In Inquisitionsprozessen wurden von der Verteidigung gerne Geistliche als Zeugen präsentiert, doch die Frage etwa, welche Gebete – christliche oder jüdische – der Angeklagte im Stillen während des Gottesdienstbesuches gebetet hätte, konnten auch sie nicht beantworten. Die Inquisitoren interessierten sich daher in erster Linie für profanere Fragen: Verdächtig waren Konvertiten, die kein Schweinefleisch aßen oder keine Heiligenbilder in ihren Wohnungen hatten.

Dass sich der Glauben einer Person in dessen Verhalten äußern müsse, welches wiederum beobachtbar sei und daher als Entscheidenskriterium fungieren könne, ist auch die Auffassung des BAMF. Nur demjenigen könne Asyl gewährt werden, der glaubhaft machen kann, dass er zukünftig nach der Rückkehr in sein Heimatland seinen neuen Glauben auch öffentlich praktizieren würde. Ursula Gräfin Praschma, Direktorin für Internationale Aufgaben im BAMF, erklärt dazu: „Wenn jemand im Iran seinen Glauben in den eigenen vier Wänden in der Zwiesprache mit Gott lebt, vielleicht auf einen Berg geht, um zu beten, dann löst er beim Regime noch keine Verfolgung aus.“[31] Der wesentliche Unterschied zwischen einem Inquisitor und einem BAMF-Entscheider besteht also darin, dass jener auf der Basis von Zeugenaussagen über vergangenes Handeln entscheidet, dieser auf der Basis von Prognosen über zukünftiges Handeln.

Ob für das Vorhaben, die zukünftige Religionsausübung einer Person, bei der man davon ausgehen muss, dass sie begründete Angst vor Verfolgung haben wird, vorherzusagen, auch divinatorische Praktiken herangezogen werden, muss an dieser Stelle ebenso offen bleiben wie die Frage, ob die römische Glaubenskongregation als Nachfolgerin der römischen Inquisition die okkulten Praktiken des BAMF bereits beobachtet. So oder so bekommt der Satz „Du entscheidest über die Zukunft dieses Menschen“ vor diesem Hintergrund eine ganz neue Bedeutung.


[1] In der älteren Converso- und Inquisitionsforschung wird zwischen zwei Lagern unterschieden: Diejenigen Forscher, die wie Haim Beinart, Conversos on Trial. The Inquisition in Ciudad Real, Jerusalem 1981 davon ausgehen, dass die Conversos echte Juden waren, die zur Konversion gezwungen wurden und als Krypto-Juden ihre Religion weiterhin heimlich ausübten, sehen vor allem einen religiösen Beweggrund hinter der Verfolgung; diejenigen, die wie Benzion Netanyahu, The Origins of the Inquisition in Fifteenth Century Spain, New York ²2001 die Quellen unter der Prämisse analysieren, dass die große Mehrheit der Conversos ehrliche Konvertiten gewesen seien, kommen zu dem Schluss, dass ihre Verfolgung nicht religiös, sondern rassistisch motiviert war. Zur differenzierteren Sicht der neueren Forschung vgl. etwa Yirmiyahu Yovel, The Other Within. The Marranos. Split Identity and Emerging Modernity, Princeton u.a. 2009.

[2] Diese öffentlichkeitswirksam inszenierte Taufe wurden von der pfingstkirchlich ausgerichteten „Alpha und Omega“-Gemeinde, einer persisch-christlichen Gemeinschaft in Hamburg, organisiert; vgl. Ellen Ivits, Massentaufe: Wenn Flüchtlinge Christus entdecken, in: STERN.de, 06.05.2016, https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/massentaufen–fluechtlinge-konvertieren-vom-islam-zum-christentum-6837644.html[abgerufen am 17.09.2018]. Zum missionarischen Impetus vieler freikirchlicher Gemeinden vgl. auch Svenja Kloos, VelberterChristen missionieren Flüchtlinge, in: WAZ.de, 13.04.2016, https://www.waz.de/staedte/velbert/velberter-christen-missionieren-fluechtlinge-id11727855.html [aufgerufen am 16.09.2018]; Ulrike Hummel, Plötzlich Christ. Sekten locken Flüchtlinge in Angst vor Abschiebung mit Blitztaufen, in: Deutschlandfunk, 13.02.2017, https://www.deutschlandfunk.de/ploetzlich-christ-sekten-locken-fluechtlinge-in-angst-vor.886.de.html?dram%3Aarticle_id=378593 [aufgerufen am 10.09.2018].

[3] Netanyahu, Origins (wie Anm. 1) schätzt die Anzahl der Konversionen auf 200.000 und damit auf ein Drittel der jüdischen Gemeinde; von 100.000 Konversionen geht u.a. Yovel, The Other Within (wie Anm. 1), S. 57 aus. Genaue Zahlen zu Konversionen in Deutschland werden weder von den Kirchen noch vom BAMF erhoben; vgl. Nina Schmedding, Neuer Tauftrend bei Muslimen?, in: Domradio, 26.05.2016, https://www.domradio.de/themen/islam-und-kirche/2016-05-26/exakte-zahlen-zu-konversionen-erheben-die-kirchen-nicht [aufgerufen am 10.09.2018].

[4] Vgl. o. V., Vater von reichlich Problemen. Kritik an Seehofers Äusserungen, in: FAZ.net, 06.09.2018, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/scharfe-kritik-an-horst-seehofers-aeusserungen-ueber-migration-15773928.html [abgerufen am 17.09.2018].

[5] Vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Pressemeldung Nr. 101: Konversion zum Christentum im Kontext des Asylverfahrens, 12.06.2018, https://www.dbk.de/nc/presse/aktuelles/meldung/konversion-zum-christentum-im-kontext-des-asylverfahrens/detail/ [aufgerufen am 10.09.2018].

[6] Ivits, Massentaufe (wie Anm 2).

[7] Vgl. Erving Goffman, The Presentation of Self in Everyday Life, London 1956; deutsche Ausgabe: Wir alle spielen Theater, 9. Aufl. München 2011.

[8] Vgl. Detlef Pollack, Überlegungen zum Begriff und Phänomen der Konversion aus religionssoziologischer Perspektive, in: Jan-Friedrich Missfelder/Matthias Pohlig (Hgg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 205), Heidelberg 2007, S. 33-55, S. 46.

[9] Das BAMF sucht „Bewerberinnen und Bewerber mit einem abgeschlossenen
Hochschulstudium auf mindestens Bachelorniveau der Fachrichtungen
öffentliche Verwaltung, Public-Management, Verwaltungswissenschaften, Rechtswissenschaften, Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften oder Politikwissenschaften“; zitiert nach Stellenausschreibung BAMF-2018-500,24.01.2018, https://www.bva.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/DLZ/Personaldienstleistungen/BAMF_2018_500_07022018.pdf?__blob=publicationFile&v=2 [aufgerufen am 16.09.2018].

[10] Ebd.

[11] Um „Interessenskollision mit den hoheitlichen Aufgaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge“ zu vermeiden, hieß es 2016 in der Stellenausschreibung für Anhörer im Asylverfahren ausdrücklich: „Das Stellenangebot richtet sich daher nicht an Juristen/Juristinnen, die auf dem Gebiet des Asyl- und Ausländerrechts tätig sind“; zitiert nach o. V., Nur für Fachkräfte ohne Fachwissen. Stellenausschreibung. BAMF sucht Juristen ohne Fachkenntnisse, in: Fokus Money Online, 02.05.2016, https://www.focus.de/finanzen/karriere/nur-fuer-fachkraefte-ohne-fachwissen-stellenausschreibung-bundesamt-sucht-juristen-ohne-fachkenntnisse-fuer-asylverfahren_id_5488839.html [abgerufen am 16.09.2018].

[12] Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/9415, 17.08.2016, S. 65; o. V., Asylverfahren dauern länger, Ausbildung der Entscheider wird immer kürzer, in: Pro Asyl, 25.08.2016, https://www.proasyl.de/pressemitteilung/asylverfahren-dauern-laenger-ausbildung-der-entscheider-wird-immer-kuerzer/[aufgerufen am 16.09.2018]; nach Judith Dauwalter, Im Crashkurs zum Asylentscheider, in: Deutschlandfunk, 31.01.2016, https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-im-crashkurs-zum-asylentscheider.724.de.html?dram:article_id=344155 [aufgerufen am 16.09.2018], dauert die Ausbildung zum Entscheider acht Wochen; Caterina Lobenstein, Behörde auf Speed. Unternehmensberater haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Effizienz getrimmt. Zulasten der Flüchtlinge – und der Gerichte, bei denen sich die Klagen stapeln, in: DIE ZEIT, Nr. 14, 30.03.2017, S. 20: „Es entscheiden immer öfter Leute, die keine Ahnung haben. Die können das Einmal eins des Asylrechts nicht.‘“

[13] Vgl. o. V., Asylverfahren dauern länger (wie Anm. 12).

[14] Vgl. Lobenstein, Behörde auf Speed (wie Anm. 12), S. 19: „Mitte 2016 werden im Bundesamt 80 Prozent der Fälle von Beamten entschieden, die die Flüchtlinge niemals persönlich angehört haben.“

[15] Ebd.

[16] Vgl. Ernst Schäfer, Die älteste Instruktionen-Sammlung der spanischen Inquisition, in:
Archiv für Reformationsgeschichte 2 (1904/1905), S. 1–55, S. 41.

[17] Vgl. Auf dünnem Eis – Die Asylentscheider. Ein Dokumentarfilm von Sandra Budesheim und Sabine Zimmer, http://www.bpb.de/mediathek/263459/auf-duennem-eis-die-asylentscheider(aufgerufen am 10.09.2018), 30 min. 30 sek.; für einen Kommentar zum Film vgl. Thomas Gehringer, Die Asyl-Entscheider. Schicksal spielen im Graubereich des Ermessens: Ein ZDF-Film beschreibt die Arbeit im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, in: Tagesspiegel, 18.06.2017, https://www.tagesspiegel.de/medien/zdf-doku-die-asyl-entscheider/19947828.html(abgerufen am 16.09.2018).

[18] Heinrich Popitz, Phänomene der Gewalt, Tübingen²1992, S. 71; vgl. dazu treffend o. V., Asylverfahren dauern länger (wie Anm.12): „Die von oben gewollte Arbeitsteilung dürfte für das Gewissen der Bundesamtsentscheider*innen entlastend sein. Einer hört an, ist aber mit den Konsequenzen nicht wirklich befasst, einer zieht nur die Konsequenzen und entscheidet, hat das Schicksal der Asylsuchenden aber nicht auf sich wirken lassen müssen.“ Tatsächlich ist ein auffallender Rückgang an positiven Asylbescheiden aufgrund von Konversion festzustellen; Marie Wildermann, Asylgrund Religion. Immer weniger christliche Konvertiten werden anerkannt, in: Deutschlandfunk, 07.03.2018, https://www.deutschlandfunk.de/asylgrund-religion-immer-weniger-christliche-konvertiten.886.de.html?dram:article_id=412403 (aufgerufen am 02.09.2018).

[19] Vgl. Claudia van Laak, Christencheck vor Gericht, in: Deutschlandfunk, 02.05.2018, https://www.deutschlandfunk.de/asylverfahren-christencheck-vor-gericht.886.de.html?dram:article_id=416478 (aufgerufen am 10.09.2018).

[20] Records of the Trials of the Spanish Inquisition in Ciudad Real, hrsg. von Haim Beinart, Bd. 1, Jerusalem 1974, S. 35: „… teniendo a Dios ante nuestros ojos …“.

[21] Vgl. Bernd Kastner, Asyl – Ungläubige Behörde, in: SZ-Online, 12.03.2017, https://www.sueddeutsche.de/politik/asyl-unglaeubige-behoerde-1.3416151 (aufgerufen am 10.09.2018): „Die Zentrale der EKD räumt dem Staat durchaus das Recht ein, ‚im Asylverfahren Glaubensüberzeugungen zu prüfen‘, solange dies nicht zu einem ‚Glaubensexamen‘ ausarte.“

[22] Vgl. o. V., Kritik an Glaubensprüfung des BAMF für konvertierte Flüchtlinge, in: Domradio, 14.03.2017, https://www.domradio.de/themen/kirche-und-politik/2017-03-14/kritik-glaubenspruefung-des-bamf-fuer-konvertierte-fluechtlinge (15.09.2018).

[23] Gottfried Martens, BAMF erklärt: Der Glaube an die Vergebung der Sünden durch Christus ist kein Grund, Christ zu werden, in: Gemeindenetzwerk, 17.10.2016, https://www.gemeindenetzwerk.de/?p=14043 (aufgerufen am 10.09.2018); die Kritik bezieht sich auf den ebenda zitierten Ablehnungsbescheid: „Die Predigt von der Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft einer Gottheit gehört zum Repertoire aller Religionen.… Der Vortrag der Antragssteller, dass sie zum Christentum konvertiert seien, um Vergebung der Sünden zu erhalten, kann demnach gerade nicht als Erklärung für eine Konversion herhalten.“

[24] Vgl. die Aussage von Ursula Gräfin Praschma, Direktorin für Internationale Aufgaben im BAMF: „Und wenn ich jetzt prüfen möchte, wie wird sich der Antragsteller verhalten, dann muss ich ja für meine Prognose irgendeinen Anhaltspunkt haben. Und dieser Anhaltspunkt ist, in welcher Art und Weise engagiert sich der Gläubige hier in Deutschland für seinen neuen Glauben.“ (zit. nach Wildermann, Asylgrund Religion (wie Anm. 18)).

[25] Vgl. van Laak, Christencheck (wie Anm. 19).

[26] Vgl. Wildermann, Asylgrund Religion (wie Anm. 18).

[27] Vgl. Alexander Sarovic, Homosexualität und Glaubensübertritt. So prüft das Bamf Asylgründe, in: SPIEGEL-Online,15.08.2018, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-so-prueft-das-bamf-asylgruende-a-1223293.html (aufgerufen am 10.09.2018): „,Die Entscheidung im Asylverfahren stützt sich hauptsächlich auf den Vortrag des Antragstellers und die gewonnenen Erkenntnisse aus der Anhörung‘, teilt das Bamf … mit.“ Vgl. dazu auch die auf soziologischer Feldstudie basierende Arbeit von Thomas Scheffer, Kritik der Urteilskraft – Wie die Asylprüfung Unentscheidbares in Entscheidbares überführt, in: Jochen Oltmer (Hg.), Migration steuern und verwalten. Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (= Schriften desInstituts für Migrationsforschung und interkulturelle Studien der Universität Osnabrück 12), Osnabrück 2003, S. 423-458, S. 423: „Auch wenn im folgenden (sic) über die Herstellung von Urteilskraft berichtet, sie als regelhaft dargestellt und ihnen (sic) eine gewisse Rationalität zugeschrieben wird, bleibt doch rätselhaft, an welcher Stelle ein Bewerber Y für den Entscheider X unglaubwürdig wird. Daß diese Frage allerdings gar nicht ins Zentrum der Asylprüfung rückt, hat mit der verfahrensförmigen Herstellung von Entscheidbarkeit zu tun. Die Prüfung ist nur an dem interessiert, was sich diskursiv im Verfahren vermitteln läßt, d.h. via Protokoll und Bescheid.“

[28] Vgl. Auf dünnem Eis (wie Anm. 17), 42. min.

[29] Vgl. Robin Vose, Introduction to inquisitorial manuals, in: Hesburgh Libraries of Notre Dame, Department of Rare Books and Special Collections, University of Notre Dame 2010, https://inquisition.library.nd.edu/genre/RBSC-INQ:Inquisitorial_manuals/essays/RBSC-INQ:ESSAY_InquisitorialManuals (aufgerufen am 16.09.2018).

[30] Vgl. van Laak, Christencheck (wie Anm. 19).

[31] Nicolai Franz, Unsere Entscheidungspraxis ist differenziert, in: Pro. Christliches Medienmagazin, 01.10.2017; https://www.pro-medienmagazin.de/politik/2017/10/01/unsere-entscheidungspraxis-ist-differenziert/ (aufgerufen am 14.09.2018).



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