„Du entscheidest über die Zukunft dieses Menschen“ – Konvertiten vor der spanischen Inquisition und dem deutschen BAMF

Du Entscheidest über die Zukunft dieses Menschen. BAMF-Mitarbeiter am Computer. (c) HANFGARN & UFER Filmproduktion
(c) HANFGARN & UFER Filmproduktion

von Sebastian Rothe

Was haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die spanische Inquisition gemeinsam? In beiden Fällen handelt es sich um staatliche Behörden, die von Amts wegen über den rechtmäßigen Glauben von Individuen entscheiden. Genauer: Sie entscheiden darüber, wer ein aufrichtiger Christ ist und wer nur zum Schein konvertierte. Und die Parallele geht noch weiter: So hängt von der Entscheidung, die die jeweilige Behörde über die Aufrichtigkeit der Konversion eines Individuums zu treffen hat, seine soziale Exklusion oder Inklusion in das Gemeinwesen ab; bisweilen sogar das Leben des Betreffenden. Kaum zu glauben? Kaum zu glauben, dass in Deutschland, dass in einem modernen, europäischen Rechtstaat, in dem Religionsfreiheit gilt, so etwas möglich ist.

Nun ist es natürlich keineswegs so, dass sich der deutsche Staat als Glaubenshüter aufführen wollte. Er gerät quasi ungewollt in diese Position, weil die Konversion zum Christentum in asylrechtlicher Hinsicht ein klassischer Nachfluchtgrund sein kann. In einigen muslimischen Ländern, vor allem Afghanistan und Iran, steht Apostasie, also der  Abfall vom rechten Glauben, unter Strafe, so dass Asylbewerbern, die aus diesen Ländern nach Deutschland geflohen sind und sich anschließend hier haben taufen lassen, bei einer Rückkehr Gefängnis oder gar der Tod droht. Es geht also um die Pflicht des deutschen Staates, Konvertiten vor den Inquisitoren unserer Tage zu schützen, die nicht im BAMF sitzen, sondern in afghanischen oder iranischen Gerichten; zu schützen sind aber eben nur ‚echte‘ Konvertiten – und da liegt die Parallele zur Situation in Kastilien vor fünfhundert Jahren.

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Seidenhart und Bronzeweich. Herkules in Münster

von Martina Wagner-Egelhaaf

Das Maskottchen des Teilprojekts A04 „Herkules am Scheideweg? Szenarien des Entschei­dens in der autobiographischen Lebenslaufkonstruktion“ ist – wie könnte es anders sein?– der mythologische Held Herkules oder Herakles, wie er im Griechischen heißt. Herakles ist der Sohn von Zeus und Alkmene und so stark, dass er schon als Kleinkind zwei gefährliche Schlangen erwürgte. Einer Legende des Prodikos zufolge, die in den Memorabilien des Xeno­phon überliefert ist, ging Herakles als junger Mann in die Einsamkeit, um darüber nachzuden­ken, was für ein Leben er führen wolle. Da begegneten ihm zwei Frauengestalten, Ἀρετή (Arete), die Tugend, und κακία (Kakia), das Laster, die ihn beide wortreich für sich zu ge­winnen suchten. Herakles war hin- und hergerissen und wusste nicht, was er tun sollte. Aber schließlich entschied er sich für die Tugend. Im Teilprojekt A04 dient Herakles als Modell für schwierige Lebensentscheidungen. Ein anderer Strang des Herkulesmythos hat in der Auto­biographieforschung bereits in den 1990er-Jahren systematische Bedeutung erlangt. Es wurde nämlich die These vertreten, dass die berühmten Taten des Herakles, die er im Dienst des Euristheus vollbringen musste, das Vorbild für die berichtenswerten Taten des Autobiogra­phen darstellen und daher auch den autobiographischen Text maßgeblich strukturieren.

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Menschen und Automaten bei der gemeinsamen Arbeit, Elektronische Datenverarbeitung mittels des IBM System/360 im VW-Werk Wolfsburg (1973).

Können Algorithmen entscheiden? Menschliche und materiale Partizipanden des Entscheidens im Konflikt

von André Krischer

Algorithmen als „Weapons of Math Destruction“

„Weapons of Math Destruction“, kurz: WMD – mit diesem ingeniösen Label bezeichnet Cathy O’Neil Algorithmen, die in immer mehr Lebensbereiche eingreifen.[1] Das 2015 erschienene Buch der amerikanischen Mathematikerin, ehemaligen Investmentbankerin und politischen Aktivistin ist vor kurzem auch auf Deutsch erschienen – und liest sich wie eine Warnung: Wer z.B. heute in den Vereinigten Staaten einen Kredit aufnehmen oder eine Versicherung abschließen wolle, sei nicht länger abhängig von der örtlichen Bankberater*In oder Versicherungsagent*In, die ihre Entscheidungen immer auch mit ‚Bauchgefühl‘ treffen und dabei nicht selten ethnische oder soziale Vorurteile einfließen lassen. Vielmehr übernehmen diese Entscheidung nun Algorithmen, also Computerprogramme. Können Algorithmen entscheiden? Menschliche und materiale Partizipanden des Entscheidens im Konflikt weiterlesen

Aktenflut und Ressourcenknappheit

von Maximiliane Berger und Nicola Kramp-Seidel

Zwei Beiträge aus der Arbeitsgruppe „Oder kann das weg? Archivarisches Entscheiden“ beleuchten ein Spannungsfeld ökonomischer Einflüsse um Bestands- und Kassationsentscheidungen.

Money, money? Archivarisches Entscheiden und Ökonomie

von Maximiliane Berger

Tagtäglich fällen Archivare Entscheidungen darüber, ob Dokumente archivwürdig sind oder kassiert werden. „Kann das weg?“ ist zugleich immer eine Frage von Knappheit und Verknappung, von Nutzen und Haushaltung; es ist eine Frage mit ökonomischem Hintergrund. Aktenflut und Ressourcenknappheit weiterlesen

Wenn du könntest, würdest du es wirklich wollen?

Entscheidensszenarien in Lana und Lilly Wachowskis The Matrix

von Zarah Rietschel

 

Stell Dir vor, Du fristest ein Doppelleben als nachtaktiver Hacker und gesetzestreuer Büroarbeiter am Tage, in Deinem Leben ereignet sich nichts Spannendes, bis auf die Tatsache, dass Du das Gefühl hast, irgendetwas sei seltsam, was genau kannst Du jedoch nicht sagen. Bis geheimnisvolle Botschaften auf Deinem PC auftauchen, Du an Deinem Arbeitsplatz (dem Büro, nicht Deinem zellenartigen Hackerzimmer) von sonnenbebrillten Männern aufgesucht und auf den Fenstersims des Hochhauses getrieben wirst, in welchem Du arbeitest. Warum Du vor ihnen fliehst, weißt Du nicht, nur, dass Du der Dir unbekannten Stimme an Deinem Handy mehr vertraust als ihnen. Du lässt Dich von ihr lenken, bis Dein Leben mit Dir auf dem Fensterbrett ins Wanken gerät, Du erwischt, verhört und verwanzt wirst. Wieder bekommst Du einen Anruf, sollst Dich nachts –natürlich bei Regen– unter einer Brücke mit der Frau treffen, nach deren erstmaligem Auftreten in Deinem Leben plötzlich Verfolgungsjagden und zuwachsende Münder zu Deinem Alltag gehören. Wenn du könntest, würdest du es wirklich wollen? weiterlesen