Entscheidensszenarien in Lana und Lilly Wachowskis The Matrix
von Zarah Rietschel
Stell Dir vor, Du fristest ein Doppelleben als nachtaktiver Hacker und gesetzestreuer Büroarbeiter am Tage, in Deinem Leben ereignet sich nichts Spannendes, bis auf die Tatsache, dass Du das Gefühl hast, irgendetwas sei seltsam, was genau kannst Du jedoch nicht sagen. Bis geheimnisvolle Botschaften auf Deinem PC auftauchen, Du an Deinem Arbeitsplatz (dem Büro, nicht Deinem zellenartigen Hackerzimmer) von sonnenbebrillten Männern aufgesucht und auf den Fenstersims des Hochhauses getrieben wirst, in welchem Du arbeitest. Warum Du vor ihnen fliehst, weißt Du nicht, nur, dass Du der Dir unbekannten Stimme an Deinem Handy mehr vertraust als ihnen. Du lässt Dich von ihr lenken, bis Dein Leben mit Dir auf dem Fensterbrett ins Wanken gerät, Du erwischt, verhört und verwanzt wirst. Wieder bekommst Du einen Anruf, sollst Dich nachts –natürlich bei Regen– unter einer Brücke mit der Frau treffen, nach deren erstmaligem Auftreten in Deinem Leben plötzlich Verfolgungsjagden und zuwachsende Münder zu Deinem Alltag gehören.
So wird Neo im ersten Teil der Trilogie von Matrix-Agenten an seinem Arbeitsplatz aufgesucht, die ihn nicht nur verfolgen und verwanzen, sondern davor auch im wahrsten Sinne des Wortes zum Schweigen bringen, indem sie auf rätselhafte Weise bewirken, dass sein Mund zuwächst und somit jedwede mündliche Gegenwehr unterbunden wird. Du tust es und findest Dich kurze Zeit später einem lässig wirkenden Typen gegenüber, der sich Morpheus nennt und Dir zwei Pillen hinhält, eine rote und eine blaue. Wofür entscheidest Du Dich? Dein Leben dort fortzusetzen, wo es stand, bevor es plötzlich abgedreht wurde und Sonnenbrillen innerhalb von Bürokomplexen als hip galten? Oder: Das „wonderland“, das vielmehr trostlose Horrorlandschaft mit überaus schlechten Witterungsverhältnissen heißen müsste, zu erkunden und die ‚Wahrheit‘ (!)zu erfahren? Und, hättest Du Dich anders entschieden, wenn Du Familienvater, erfolgreiche Autorin oder leidenschaftlicher Hobbyballetttänzer mit konkreten Karriereaussichten gewesen wärst? Das ist natürlich eine rein hypothetische Überlegung. In etwa wie die, die Morpheus Neo auf dessen Frage hin darbietet: „I can’t go back, can I?“ „No, but if you could, would you really want to?“.
Cypher, der sich als Bösewicht im Film etabliert, möchte seinen Plan in die Tat umsetzen, den gegangenen Weg rückgängig zu machen und in sein altes Leben zurückzukehren. Möglich scheint es also doch zu sein, denn er ist auf dem besten Weg seinen Plan zu verwirklichen. Entsprechend müsste die Frage doch eher lauten: Welchen Preis würdest Du zahlen, um zurückgehen zu können? Zurück in die Unwissenheit, den ‚Fake‘, aber einen recht hübschen im Vergleich zum Leben auf der Nebukadnezzar, mit heilen Klamotten und besserem Essen, zumindest, solang die Maschinen, denen Du als Energiequelle dienst, Dich nicht ein fiktives Leben als Obdachloser fristen lassen. Immerhin sind sie es, die darüber entscheiden, welche Bilder sich in Deinem Kopf abspielen, welches Leben Du zu führen glaubst, in welcher Matrix Du Dich bewegst. In der realen Welt liegen (beinahe) alle Menschen gleich da, als Energiequellen in endlosen Schlaf gefesselt. Was sich dabei jedoch in ihren Köpfen abspielt, unterscheidet sich bei jeder Einzelnen und jedem Einzelnen.
Die Entscheidensszenen im ersten Teil der Matrix-Trilogie scheinen die betroffenen Figuren nicht immer wirklich vor die Wahl zu stellen, wie es beispielhaft deutlich wird, wenn Neo sich bei der Frage „our way or the highway?“ für den highway entscheidet und Trinity ihn beim Öffnen der Tür zurückhält. Fast ließe sich annehmen, dass Neo sich selbst weniger vertraut als Trinity und Morpheus und sich darauf verlässt, dass die beiden wissen, wie es mit ihm weitergehen soll.
Ist also die Frage, ob rot oder blau nicht allein die nach einem erfüllten Leben, sondern auch nach einem eher stark oder schwach ausgeprägten Selbstbewusstsein bzw. hängt die Antwort von der jeweiligen Entscheidenskompetenz der Figuren ab? Am Ende bleiben Fragen, nicht nur bezüglich inhaltlicher Aspekte des Films – Wieso kann Morpheus‘ Crew mit Handys telefonieren und braucht demgegenüber, um Körper und Geist wiederzuvereinigen, Festnetzanschlüsse? Wieso ist Neos Sonnenbrille in der letzten Szene des Films schief? Und was haben die dicken Hasen auf dem Fernsehbildschirm im Wartezimmer der Wahrsagerin zu bedeuten?
Sondern auch hypothetischer Natur: Äße ich als Vegetarierin Fleisch, wenn ich wüsste, dass es nur fiktiv ist? Wie weit ginge ich, wenn ich wüsste, dass die Welt um mich herum nur in meinem Kopf existiert und ich eigentlich in einem mit Aspik befülltem Behälter als menschliche Batterie fungiere? Wir können es nicht wissen, nur überlegen und vielleicht erahnen. Am Ende liegt es an uns, die Tür zu öffnen, die uns gezeigt wird oder sie geschlossen zu halten und zu hoffen, dass die nächste Person, die vor sie tritt, entschlossener durchschreitet.