„You decide“ (?) – Werbung in der Entscheidungsgesellschaft

von Laura-Marie Krampe und David Ginnuttis

Werbeplakat von Philipp Morris / Foto: Laura-Marie Krampe
Werbeplakat von Philipp Morris / Foto: Laura-Marie Krampe

Werbung versucht stets, virulente Diskurse, Trends, Befindlichkeiten aufzugreifen oder besser noch: zu antizipieren und pointiert zu artikulieren. Marlboro und Aldi markieren mit ihren aktuellen Kampagnen zwei gegensätzliche Pole im Entscheidensdiskurs und werfen damit die Frage auf: Ist Entscheiden Inbegriff individueller Freiheit oder belastende Zumutung, von der es sich zu befreien gilt?

You decide – Du entscheidest. Mit diesem Slogan bewirbt der Tabakkonzern Philip Morris International seit Februar 2016 in einer groß angelegten Plakatkampagne die hauseigene Zigarettenmarke Marlboro. Das Konzept der zuständigen Werbemacher ist dabei ebenso simpel wie genial.

Im Zentrum der Plakate steht eine in unregelmäßigen Lettern gedruckte Frage: What is your next move? (Oder variable austauschbar: Where will you go from here? Will you stay real? Is up the only way? Is freedom just a state of mind?). Direkt darunter leuchten die stilisierten roten Ecken einer klassischen Marlboro Zigarettenschachtel, gefolgt von der Aussage: you decide. Eine Aussage, die in einer fortschrittliebenden (und -lebenden), auf das Individuum zentrierten Moderne leicht als Imperativ aufgefasst werden kann.

Keine Schockbilder. Keine Warnsprüche. Kein bitterer Beigeschmack. Die negativen Konnotationen, mit denen der Zigarettenkonsum heute mehr denn je behaftet ist, werden unter der Freiheit einer Entscheidung subsummiert, die durch die ‚individualisierte‘ Schrifttype als ebenso individuell wie nonkonform ausgewiesen wird. Dem Wiedererkennungswert der Marke tun die minimalistischen Plakate keinen Abbruch. Im Gegenteil: Was bleibt ist ein positives Gefühl, implizit verknüpft mit der Marke Marlboro. Das Gefühl, die Wahl zu haben und selbst, auch gegen die Mahnungen von Ärzten, Eltern und Gesundheitspolitikern, entscheiden zu können. Was die Werbemacher hier suggerieren, lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Choice is a good thing.

Entscheiden können, bedeutet frei zu sein, sich selbst zu verwirklichen und der eigenen Individualität Raum zu geben. Wahlfreiheit ist ein Luxusgut, ein Marker für Fortschritt und die Aussicht auf einen unbegrenzten Zukunftshorizont voller Möglichkeiten: „Will the world know your name?“, heißt es ganz im Sinne des American dream auf einem weiteren Plakat.  Optionen in Hülle und Fülle warten darauf, ergriffen zu werden. Ein jeder kann das für sich bestmögliche Leben nach dem Baukastenprinzip gestalten – er muss sich nur dafür entscheiden.

Die Strategie der Kampagne passt zum Image der Zigarettenmarke. „Freiheit und Abenteuer hängen […] damit zusammen, dass man Entscheidungen trifft und selbstbestimmt im Leben agiert.“[1], erklärt Thorsten Scheib, Marketing Direktor der Philipp Morris GmbH. Der Zug auf den die Marketingabteilung hier aufspringen, ist der einer modernen Meistererzählung. Entscheiden wird im 21. Jahrhundert als etwas Selbstverständliches, Alltägliches deklariert, etwas, dass wir alle tun, das zum Leben gehört wie die Luft zum Atmen und letztlich vor allem: als etwas prinzipiell Gutes.

Entscheiden als Überforderung

Was aber, wenn Entscheiden zu einer Zumutung wird?

Im gesellschaftlichen Diskurs wird es das derzeit in erster Linie als Überforderung: Die Fülle der Optionen mutiert zur Überfülle. Eine globalisierte, medial vernetzte, hyper-beschleunigte, postfaktische Postmoderne, in der prinzipiell anything geht, multipliziert die Möglichkeiten auf ein nicht mehr handhabbares Maß. Und mit ihnen die Informationen über die Optionen, die unablässig mittels zahlloser Kanäle gesendet werden. Überschauen könne das niemand mehr, der Einzelne, aber auch Organisationen, Institutionen oder einfach: ‚die Gesellschaft‘ sehen sich einer hoffnungslosen, als geradezu bedrohlich empfundenen Überkomplexität gegenüber, angesichts derer das Entscheiden zunehmend schwerer fällt.

Doch wo Entscheiden als good thing gilt, wird allgemeine Entscheidensfreude vorausgesetzt. All die Optionen wollen ergriffen werden – Don’t be a maybe, um Marlboros Vorgängerkampagne zu zitieren. Letztere wurde zwar als jugendgefährdend verboten, aber letztlich formuliert eine so entscheidensemphatische Kultur stets mehr oder minder implizite Entscheidensimperative: Auch, wenn hinter dem neuen you decide ein harmloser Punkt steht, verwandelt er sich in diesem Kontext zum gefühlten Ausrufezeichen. Es lässt sich nicht mehr nur als befreiendes „Du darfst entscheiden“ lesen, sondern als autoritatives – und damit der Freiheitserzählung genau gegenläufiges – „Du musst entscheiden!“

Entscheidungsfreiheit? Entscheidensfreiheit!

Diese Gegenposition präsentiert eine andere Kampagne, ein Indiz dafür, dass sie ähnlich mehrheitsfähig sein dürfte. Nur wenn es irgendwo ein mehr oder minder ausgesprochenes Unbehagen über Überkomplexität gibt, über ein belastendes Zuviel an Möglichkeiten, hat es Sinn, zu proklamieren: „Das Leben kann so einfach sein. Jedenfalls tun wir bei Aldi alles dafür, Sie von unnötiger Komplexität zu befreien.“[2]

Bei einem Discounter mit überschaubarer Produktpalette ist klar, worauf das ganz konkret abzielt: „Wir brauchen kein’n Supermarkt, der so groß is‘, dass ihr euch nicht entscheiden könnt“, belehrt in einem der Clips die Kinderstimme aus dem Off die Erwachsenen, während man zwei Kinder mit einem Retro-Kaufladen spielen sieht. In einem Musikvideo mit hohem Fremdschämpotential rappt Falk-Arne Goßler alias Fargo für die Kampagne: „Heut‘ sind die Gänge so lang, dass man ohne ein’n Tag Urlaub nicht mehr einkaufen kann, denn der eine mag sein’n Käse soft, der andere weich – was für’n Scheiß: Im Vergleich schmecken beide doch gleich!“

Über diese Referenzen auf das Einkaufen im konkreten Supermarkt hinaus gibt sich die Aldi-Werbung allerdings wortwörtlich als ‚Manifest‘ (so der Titel der Webseite: Manifesto – Einfach ist mehr) gegen ein allzu kompliziertes Leben im metaphorischen Supermarkt der Möglichkeiten (der Untertitel einer aktuellen Ausstellung zum Entscheiden) und für mehr Einfachheit.

„Wir glauben, es ist Zeit, die Komplexität um uns herum in Frage zu stellen und sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren – wie unsere Kinder.“ Fargo: „Wir nennen es Luxus und dabei schränkt es uns alle nur ein, ein Teil dieser reizüberladenen, alles begrabenden, nutzlosen Vielfalt zu sein.“ Die Vielfalt der Optionen sei in Wahrheit eine Einschränkung, da sie implizite Entscheidensimperative mit sich bringt. „Wir machen viel zu oft Dinge, weil wir glauben, dass das von uns erwartet wird“, weiß die erwachsene Off-Stimme in einem weiteren Clip. Echte Freiheit ist darum gerade nicht Entscheidungsfreiheit, sondern im Gegenteil Entscheidensfreiheit, sprich: ein Freisein vom Entscheiden(müssen). In diesem Sinne profiliert sich die Aldi-Kampagne selbst als „Plädoyer für mehr Freiheit“ – genau am Gegenpol zum Freiheitsverständnis der Marlboro-Kampagne.

Ganz nebenbei bedient sie mit ihrem wahlweise regressiv oder biblisch anmutenden „werdet wie die Kinder“-Tenor das eingangs erwähnte Modernisierungs-Masternarrativ, Rationalismuskritik inklusive: „Wir Erwachsenen denken viel. Manchmal zu viel. Dadurch machen wir uns das Leben oft schwerer als nötig. Nicht so unsere Kinder. Sie handeln viel instinktiver und haben immer das Wesentliche im Blick.“ Und: „Als wir Kinder waren, war die Welt noch in Ordnung – stimmt, weil sie einfacher war.“ Zwischen Kind und Erwachsenem, zwischen früher und heute liegt vor allem ein Rationalitäts- und Komplexitätszuwachs, wobei die ‚vormoderne‘, einfache Welt des auf das Wesentliche konzentrierten Instinkthandelns „noch in Ordnung“ war, die ‚moderne‘, überkomplexe Welt des rationalisierenden Entscheidenshandelns dies dagegen nicht mehr ist. Denn: „Kinder lachen über vierhundert Mal am Tag, Erwachsene nur fünfzehn Mal.“

 

[1] http://tabakspezialist.de/news/zigaretten-news/89-marlboro-mit-neuer-you-decide-kampagne.html

[2] https://www.einfach-ist-mehr.de/nord/einfach

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