Buridans Esel oder vom unendlichen Glück des Entscheidens (Teil I)

von Jan Keupp

Aus: Kladderadatsch. Humoristisch-satirisches Wochenblatt 3,2 (1850), S. 8.

„Des Buridanus Eselstute / kennt jeder Böse, jeder Gute“, so reimte der Nonsenspoet Christian Morgenstern im Februar 1906.[1] Das bedauernswerte Tier habe bekanntlich „vom Wirbel bis zum Steiß“ den Hungertod erlitten. In der Mitte zwischen zwei gleichartige Heuhaufen platziert habe es sich für keinen der beiden entscheiden können. Gefangen im Gravitationsfeld äquivalenter Anziehungskräfte musste das Langohr daher bis zu seinem bitteren Ende regungslos verharren. Das grausame Exempel wurde spätestens seit dem 16. Jahrhundert dem Scholastiker Jean Buridan († 1358) zugeschrieben. Seine Wirkungsgeschichte überspannt allerdings alle Epochen der europäischen Geistesgeschichte: Ist dieser Esel in seiner Entscheidungsschwäche noch zu retten?

Die Philosophen zweier Jahrtausende haben das Paradoxon auf gänzlich unterschiedliche Weise gehandhabt.[2] Während Aristoteles die Annahme eine tödliche Paralyse in Erwägung zog (sofern kein Zerfall in zwei Hälften eintrete), äußerte Buridan Zweifel an einer derartig deterministischen Position: „Dies schiene mir falsch“ vermerkt er in seinem Kommentar zur Himmelsmechanik, in dem er freilich nicht den Esel, sondern einen Hund zwischen zwei Futterquellen stellt.[3] Mindestens dem Menschen, so schrieb der Pariser Gelehrte andern­orts, stünde es kraft eines freien Willens zu, womöglich auch beim Fehlen expliziter Vernunftgründe einer der beiden Alternativen den Vorzug zu geben. Er könne sich zudem bewusst nicht entscheiden oder aber den Entscheidensprozess vorübergehend aussetzen.[4] Diese dilatorische Variante fand im geistigen Kosmos aufgeklärter Denker des 18. Jahrhunderts freilich keinen Platz mehr. Rationalität führe stets zu Finalität, so ließ sich Gottfried Wilhelm Leibniz vernehmen. Eine verstandesmäßig erfassbare Differenz müsse rein naturgesetzlich schon deshalb vorliegen, da sich das Weltganze kaum „durch eine mitten durch den Esel gelegte vertikale Ebene in zwei Hälften“ zerteilen lasse.[5] Bereits die inneren Organe des Tieres seien ja asymmetrisch angeordnet!

Einfach auf sein Herz hören – dies konnte das Langohr fortan folglich nicht mehr. Jüngere Deutungsversuche unterwarfen den Esel vielmehr stärker denn je Rationalitäts­erwartungen, ohne ihn damit zugleich deterministisch zum Tode verdammen zu wollen. Entscheiden, so lässt ein Literaturüberblick vermuten, erhielt im Übergang zur Moderne eine zunehmend feste Zielperspektive, die notwendig im Akt der Entscheidung mündete: „The real ‚irrationality‘ of Buridan’s ass rested not in its inability to rank the two haystacks, but in its refusal to choose“, so urteilten überzeugte Jünger der ‚rational choice theory‘.[6] Die entscheidungslose Sturheit des Esels schien ihnen ein systemwidriger Störfaktor.

Buridans Esel kann gleich in mehrfacher Hinsicht als Maskottchen des Münsteraner SFB dienen. Sein schlimmes Schicksal mag (1.) stellvertretend für die Erforschung des Entscheidens als eines Prozesses stehen. Dieser wird in der Gestalt des Grautiers auch ohne einen definitiven Endpunkt, das faktische Eintreten der Entscheidung, als empirisches Phänomen greifbar. Die strikte Fixierung der sogenannten ‚decision sciences‘ auf diesen finalen Akt des Auswählens entlarvt Buridans Esel dadurch als zeitgebundenes Konstrukt, dessen vermeintliche’Alternativlosigkeit‘ in unterschiedlichen Phasen der Philosophiegeschichte keineswegs einhellig bejaht wird. Daraus folgt (2.), dass Entscheiden offenbar historisierbar ist, sind doch die Chancen und Rahmenbedingung des Überlebens für den Esel in Mittelalter und Moderne gänzlich verschiedene. Offenkundig handelt es sich um ein kulturell voraussetzungsvolles Geschehen, dessen vorgebliche Alltäglichkeit an zeitspezifische Konventionen gebunden ist. Die scheinbare Einsamkeit des Esels mag deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sein Entscheiden (3.) ein soziales Handeln darstellt, insofern es sinnhaft auf die Erwartungen Dritter bezogen ist.[7] Wer immer das Grautier gedankenexperimentell zwischen die beiden Heuhaufen stellt, der tut dies in der Hoffnung, durch dieses Gleichnis die gegenwärtigen Spielräume des Entscheidens neu zu vermessen. Aus diesen Erwägungen heraus lohnt sich denn auch der Blick auf das Spektrum der Rettungsversuche, die zwischen dem 14. und 21. Jahrhundert unternommen wurden, um den Esel vom Hunger und die Zeitgenossen von der Last indifferenter Entscheidungssituationen zu erlösen:

Rettungsversuch 1: Ein Exempel ohne Existenzgrundlage

Wie sophistisch ist Buridans Esel? War er nichts weiter als ein Testfall des scholastischen Argumentierens, ebenso abstrakt wie abgeschmackt? Die Überlebensfrage, so Leibniz, gehe „im Grund (…) auf etwas Unmögliches“.[8] Diese apodiktische, natur­wissen­schaftlich begründete Abwehr findet verschiedent­lich Vorläufer im 16. und 17. Jahrhundert: Als „fast unmöglich“ etwa bezeichnete der spanische Dominikaner Bartholomaeus von Medina 1577 das Dilemma und ein artistisches Traktat des Jahres 1642 erklärte die Angelegenheit schlicht für „lachhaft und jeder Erfahrung zuwider“.[9] Ein Zustand uneingeschränkter Indifferenz sei angesichts der Komplexität der Welt kaum jemals herzustellen (difficillimum est facere), so beschied 1618 der Pariser Philosophie­professor Johannes Crassotius, und zwar aufgrund der „Ungleichheit und Instabilität der einzelnen Dinge“ und der „Beweglichkeit der Vorstellungskraft“.[10]

Auf dem Weg in die Gegenwart haben sich weniger die Argumente als die Begrifflichkeiten gewandelt. Seitens der Naturwissenschaften hat man versucht, das Dilemma durch Verweis auf die „spontane Symmetriebrechung“ und quantenmechanische Indeterminiertheit auszuhebeln, die eine absolute Parität der Wahlmöglichkeiten kategorisch ausschließe.[11] Eine solche Flucht in scheinbar naturgesetzliche Gewissheiten aber, so stellte bereits der englische Logiker Augustus de Morgan 1872 fest, ist in Bezug auf Buridans Gedankenexperiment „no answer at all“.[12]

Rettungsversuch 2: Externe Entscheidungshilfe

„If only he had studied multicriterion analysis…“[13] – so wäre der arme Esel über diesem Studium, wenn nicht verhungert, so doch verzweifelt! Mitunter mag vormodernes Dasein Vorteile mit sich bringen! Der von jüngeren Autoren präferierte Weg des noch so subtilen Abwägens und Berechnens des per definitionem Ununterscheidbaren jedenfalls ist dem Esel generell verschlossen. Das Zählen und Wägen der Heuhalme würde ihn auch mit ausgeklügelten Methoden nicht zum Ziel führen. Sein Tod scheint vielmehr immer dann vorprogrammiert, „wenn er die Mathematik mit der Wirklichkeit verwechselt“.[14]

Im Bemühen, dem Langohr das Leben zu bewahren, bot daher die Randomisierung seines Handelns einen gerne gewählten Notbehelf. Die Möglichkeit, Glück oder Los ins Spiel zu bringen, hat etwa der französische Enzyklopädist Pierre Bayle 1697 angedacht: Er selbst würde sich jedenfalls zwischen zwei gleichermaßen attraktiven Damen auf diese Weise entscheiden – ein kulturgeschichtlich bemerkenswertes Bekenntnis des aufgeklärten Denkers.[15]

Was „in Ansehung zwoer Buhlschwestern“[16] opportun erschien, empfanden auch moderne Philosophen und Handbuchautoren als angemessenen Ausweg. Andere hingegen rieten zum dilatorischen Handeln: Auf ein Eingreifen der fortuna hoffte 1577 Bartholomaeus von Medina und beschritt damit den von Buridan selbst vorgezeichneten Pfad. Statt den entscheidenden Schnitt zu setzen könne man die Situation auch in der Schwebe halten (in suspenso tenere) und abwarten, bis sich ein klarer Vorteil wie von selbst ergäbe.[17] Das sture Verharren im Entscheiden wäre damit in ein kluges Warten auf eine externe Entscheidungshilfe überführt und auf diese Weise rational umkleidet. Dies setzt allerdings voraus, dass ein solches Differenzereignis auch tatsächlich eintritt. Es wundert wenig, wenn moderne Autoren in der Folge erhellende Sonnenstrahlen, lästige Fliegen und hilfreiche Quantensprünge hinzuerfanden, die das Gleichgewicht der Heuhaufen durchbrechen und dadurch das Grautier aus seiner Zwickmühle befreien.[18]

Mit der Bitte um eine Eselsgeduld

Auf solch eine externe Intervention wartet Buridans Esel indessen bis heute vergebens. In seinem störrischen Selbstbezug weigert er sich zudem, vom Mittel des Loses Gebrauch zu machen. Vermutlich liegt es ohnehin in seiner Natur, wohlmeinende Hilfe zu verweigern und statt dessen, wie Brehms Tierleben vermerkt, „nach der ihm schmeichelnden Hand zu schnappen“.[19] Daher wird man es mir wohl nachsehen, wenn ich das Grautier nun eine Weile seinem Schicksal überlasse, um die Rettungsmaßnahmen neu zu koordinieren. Denn nicht nur Paarhufer, auch Wissenschaftler verfügen bisweilen über eine sprichwörtliche Esels-Geduld.

Eine Fortsetzung folgt also…

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Alle links letztmalig abgerufen am 16.05.2017. Für hilfreiche Korrekturen und Anmerkungen danke ich den Mitgliedern der Blogredaktion, nicht zuletzt aber dem philosophischen TÜV durch Herrn Dr. Tim Rojek (gerade weil ich ihn nicht unbeanstandet durchlaufen habe). Der Titel ist nicht entlehnt von Ulrich Plenzdorf, Buridans Esel. Legende vom Glück ohne Ende, Berlin 1986, das ich nie gelesen habe – dennoch ist die Ähnlichkeit bezeichnend.

[1] Christian Morgenstern, Werke und Briefe, Band 3: Humoristische Lyrik, hrsg. von Maurice Cureau, Stuttgart 1990, S. 193.

[2] Einen detaillierten historischen Überblick bietet Nicholas Rescher, Choice without preference. A study of the history and of the logic of the problem of ‚Buridan’s ass‘, in: Kant-Studien 51 (1959/60), S. 142–175.

[3] Ioannis Buridani Expositio et Quaestiones in Aristotelis De caelo, hrsg. von Benoît Patar (Philosophes Médiévaux 33), Löwen/Paris 1996, S. 150: Et cum haec appareant falsa, ita erat falsum quod dicebant de terra. Siehe auch die ausführliche Einführung S. 20-26. Es ist beachtlich, dass trotz dieses Nachsatzes Buridan zumeist als Anhänger des Determinismus eingeordnet wird.

[4] Dies demonstriert Buridan am Beispiel des Entscheidens zwischen zwei Reiserouten, siehe Johannes Buridan, Quaestiones super decem libros ethicorum ad Nicomachum, Paris 1518, lib. III q 1, fol. 38r (url: https://books.google.de/books?id=ig-_TfUzp1sC&pg=PT75): ideo libere potest se determinare ad quodlibet illorum absque alio quocunque determinante ipsam, vel etiam potest ad neutrum illorum se determinare, sed in suspenso manere, donec fuit inquisitum per rationes que via fuerit expedientior vel melior. Siehe überblickshaft Gerhard Krieger, Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridanus, Münster 1986, S. 152-208; Henrik Lagerlund, Buridan’s Theory of Free Choice and Its Influence, in: Emotions and Choice From Boethius to Descartes, hrsg. von dems./Mikko Yrjonsuri, Dordrecht/Boston/London 2002, S. 173-203.

[5] Gottfried Wilhelm Leibniz, Versuche in der Theodisée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, übers. von Artur Buchenau (Philosophische Bibliothek 499), Hamburg 1996, S. 122.

[6] Amartya Sen/Bernard Williams, Introduction: Utilitarianism and beyond, in: Utilitarianism and Beyond, hrsg. von dens., Cambridge 1982, S. 1-22, S. 17.

[7] Gemäß der bekannten Definition Max Webers, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 5. Aufl. 2002, S. 1 bezeichnet „soziales Handeln“ solches Tun, Erdulden oder Unterlassen, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird“. Dies mag nicht per se für hungrige Esel zutreffen, wohl aber für das gedankenexperimentelle Exempel, das kommunikativ-didaktische Zwecke verfolgt. Das Attribut ’sozial‘ mag daher zwar nicht für den Esel, wohl aber für die Beobachtung seines Entscheidens gelten. Dies gilt im Übrigen in gleicher Weise für die Repräsentation des Entscheidens in historischen Schriftquellen, deren Abfassung durchwegs als soziales Ereignis aufzufassen ist.

[8] Leibniz, Versuche (wie Anm. 5), S. 122.

[9] Zitiert nach: Bartholomaeus von Medina, Expositio in primam secundae angelici doctoris D. Thomae Aquinatis, Salamanca 1582, S. 228: dicendum est, casum esse impossibilem fere (url: https://books.google.de/books?id=H84svM9IPVUC&pg=PA228); François Le Rées, Tertia pars philosophiea quae est ethica seu moralis, Bd. 2, Paris 1642, S. 119 (url: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k96314973/f141).

[10] Johannes Crassotius, Totius Philosophiae peripateticae corpus absolutissimum, Bd. 1, Paris 1619, S. 1006 (url: https://books.google.de/books?id=PjYeo2SSMogC&pg=PA1006).

[11] Henning Ganz, Buridans Esel und die spontane Symmetriebrechung, in: Physik in unserer Zeit 27,5 (1996), S. 218-220; Peter C. Hägele, Warum Buridans Esel nicht verhungert – Gesetz und Zufall in der Physik [Foliensatz], url: http://www.uni-ulm.de/~phaegele/Buridans_Esel_1.pdf.

[12] Augustus De Morgan, A Budget of Paradoxes, London, 1872, S. 28.

[13] Sergio Barba-Romero/Jean-Charles Pomerol. Multicriterion Decision in Management: Principles and Practice, Boston 2000, S. 3.

[14] Ernst Peter Fischer, Schrödingers Katze auf dem Mandelbrotbaum – Durch die Hintertür zur Wissenschaft, München 2006, S. 306, der sich freilich der Meinung Leibniz‘ anschließt.

[15] Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique, Rotterdam 1697, S. 701 (url: https://books.google.de/books?id=OrtUAAAAcAAJ&pg=PA701).

[16] Johann Christoph Gottsched, Herrn Peter Baylens Historisches und Critisches Woerterbuch nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche uebersetzt, Bd. 1, Leipzig 1741, S. 726.

[17] Bartholomaeus von Medina, Expositio (wie Anm. 9), S. 228.

[18] Die Fliege u.a. bei Jürgen Deeg/Wendelin Küpers/Jürgen Weibler, Integrale Steuerung von Organisationen, München 2010, S. 78 mit entsprechender Abbildung 4.2. Wind und Sonnenstrahlen steuert bei: Dirk Proske, Unbestimmte Welt, Wien 2006, S. 51.

[19] Alfred Edmund Brehm, Illustriertes Thierleben. Eine allgemeine Kunde des Thierreichs, Bd. 2, Hildburghausen 1865, S. 365.

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