Von Maximiliane Berger und Sarah Nienhaus
Eine Ausstellung in Hamburg thematisiert ‚Entscheiden‘ als Supermarkt der Möglichkeiten. Erfahrungsbericht eines Bummels zwischen Entscheidenslust und –frust.
3, 2, 1 … Geduld wird belohnt. Die digitale Zeitanzeige schaltet auf null und erlaubt Besuchern, in den ersten Ausstellungsraum einzutreten. Dargeboten wird dort ein Kurzfilm zur Geschichte des Entscheidens: Nachdem im Mittelalter die Bevölkerung mit Beten und Arbeiten ausgelastet war, entdeckten im 18. Jahrhundert kluge Männer wie Kant die Entscheidungsfreiheit. Im 19. Jahrhundert fiel das Beten weg und wurde durch Schlaf ersetzt; gleichzeitig wagten sich wohlhabende Väter und Söhne auf das Terrain eigener Entscheidungen vor, erstmals mit der „Qual der Wahl“ konfrontiert. Frauen durften sich entspannen, denn die bildliche Umsetzung zeigt eine Hand, die eine weibliche Figur flink an den Herd bugsiert. Erst in den 1970er Jahren kamen auch Frauen auf den Trichter: Eigentlich könnten auch wir mal entscheiden! Im 21. Jahrhundert schließlich sind wir angekommen in der Entscheidungsgesellschaft. Sind wir das wirklich?
Entscheiden im Überfluss der Möglichkeiten
„Entscheiden. Eine Ausstellung über das Leben im Supermarkt der Möglichkeiten“ war, nach Stationen in Mainz und Bremen, bis Mitte April 2017 im Hamburger Museum der Arbeit zu sehen. Nach der Organisation von „Körperwelten“ widmen sich die Ausstellungsmacher von „Arts & Sciences“ erneut einem Thema, das uns alle, als Teile der Entscheidungsgesellschaft, angehen soll. Entsprechend wird der Begriff des Entscheidens nicht thematisiert, sondern alltagsweltlich eingesetzt. Dabei fällt das Konzept eine Entscheidung nicht: die zwischen dem Narrativ des großen, ubiquitären Entscheidens und seiner Auflösung in Beliebigkeit, Determination und Resignation. Im Anschluss an den Eingangsfilm sind Besucher selbst gefragt. Man kann ziehen, drehen, aufklappen, Hörstationen bedienen, und sich nach Strich und Faden psychologisch testen. So wird ein mit statistischen Informationen und Expertenbeiträgen gepflasterter Weg durchwandert, der von einem Teller Pralinen bis zu einem schwarzen Raum mit Krankheits- und Todesgeschichten führt. Danach mutet es befremdlich an, auf dem Weg an die frische Luft noch einen Kassenzettel mit persönlichen Testergebnissen und Ratschlägen gegen Entscheidungsschwäche in die Hand gedrückt zu bekommen.
Das Narrativ des großen Entscheiders findet sich noch bei der ersten Station, die sich mit Eheentscheidungen und Partnerwahlen befasst. Hier ist nämlich Aktivität gefragt. Zieht man an einem Ring, ertönen schwärmerische oder ernüchternde Interviews zum genannten Thema. Ein überdimensioniert großer Ring für Interviewpartner, ein kleiner für Interviewpartnerinnen. Nur ein als „Pick-up Artist“ ausgeflaggter junger Herr führt das Wort „entscheiden“ ständig im Munde – erster Hinweis, dass der „Supermarkt der Möglichkeiten“ einen schalen Nachgeschmack im Angebot haben wird.
In der Mitte des entscheidungsträchtig offen angelegten Raumes findet das Thema Berufsentscheidungen seinen Platz. Fazit der Statistik: Hinterher ist es immer anders, als sich Entscheider vorher gedacht hatten. Interviewt wurden weibliche und männliche Heranwachsende. Im Märchen des Berufswunsches ist Entscheiden der böse Stiefvater und bringt Desillusionierung ins Haus. Dies ist umso augenfälliger, als Jugendliche kurz vor der (ersten) Berufsentscheidung eine Hauptbesuchergruppe der Ausstellung bilden. Didaktisches Material ist speziell auf sie ausgerichtet: Der „Entscheidungsbaum Karriere“ führt graphisch durch die Ausstellung und gratuliert zu mehr als fünfzig bereits im Laufe des Besuchs getroffenen Entscheidungen. Er fragt allerdings auch danach, wohlgemerkt unter der Überschrift „Karriere“, welche Schönheitsoperation sich die Jugendlichen denn nicht vorstellen könnten. Neue Entscheidungsfelder, in der Tat. Es wird immer deutlicher: Entscheiden und „Entscheiden“ sind harte Arbeit. Ein Fernsehraum lädt zum Verweilen ein, ausgestattet mit einem weißen Ledersofa, Teppich und Zimmerpflanzen. Hier darf großen Entscheidern gelauscht werden, und auch einer Frau.
Oder doch determiniert?
Der zweite Teil der Ausstellung kippt zusehends in Richtung Entscheidungsfrustration – im Wortsinne, denn es geht hauptsächlich um physisch-medizinische Stimmen, die unkontrollierbare Einflüsse auf und Folgen von Entscheidungen betonen. In ominösem Grün werden verschiedenste Hormone vorgestellt; visuell umgesetzt wird auch das Marshmallow-Experiment. Schaffen es Kleinkinder, sich vor der verlockenden Süßigkeit so lange zu disziplinieren, dass sie aus den Experimentatoren eine zweite Portion schaumige Zuckermasse herausholen können? Die Botschaft: Kinder, die die physischen Impulse ihres Appetits zügeln, sind auch im weiteren Lebenslauf erfolgreicher. Diese Station zeigt erste Spuren einer Revolte der Besucher, denn es wurden einige mit Marshmallows gefüllte Säulen kurzer Hand aufgebrochen. Die Bevölkerung des 21. Jahrhunderts möchte eben einfach alles. Wozu das führen kann, zeigt auch die vorletzte Station: Entscheiden macht krank. Wer zu viel entscheidet, geht gesundheitliche Risiken ein. Umgekehrt scheint das Hauptsymptom besprochener Burnout-Erkrankungen chronische Entscheidungsunfähigkeit zu sein. Das will man natürlich nicht. Dankbar können sich Besucher im Anschluss aus einer Reihe amtsgrauer Aktenschränke Ratschläge für die Bewältigung verschiedener Arten von Entscheidungsproblemen heraussuchen. Dennoch geht es angeschlagen Richtung Ausgang und dort wartet die bereits erwähnte letzte Station: Nicht mehr Männer sind hier die großen Entscheider, sondern letztlich das Schicksal.