Im ersten Beitrag zum Entscheidensdiskurs in der Werbung stellen wir Marlboro und Aldi als zwei Pole gegenüber: Die „You decide“-Kampagne von Marlboro als wörtlich plakative Bejahung von Entscheidungsfreiheit, Aldis „Einfach ist mehr“-Kampagne als selbsternannte Befreiung von der Überforderung des Entscheidens. Doch reflektieren die Marlboro-Plakate nicht vielleicht auch, nur subtiler Überforderung? Und macht beim Tabak gar nicht so sehr die Überforderung, sondern vielmehr das Risiko Entscheiden zur Zumutung?
Maximales Freiheitsversprechen hin oder her, die Entscheidensemphase des „You decide“-Plakats ist prekär, sie kann leicht kippen in einen (gefühlten) Entscheidensimperativ. So sehr es als kreatives Privileg empfunden werden kann, ein weißes Blatt – oder in diesem Fall gar: ein überdimensionales weißes Werbeplakat – füllen zu dürfen, so belastend bis zum Nervenzusammenbruch stellt es sich ebenso häufig dar, es füllen zu müssen. Zumindest, wenn man den unzähligen Geschichten über Künstler/innen mit Schreibblockade oder Schaffenskrise glaubt. Solche Figuren werden dabei allerdings mit Vorliebe kettenrauchend, vor überquellenden Aschenbechern gezeigt. Genau das ist es, was die Werbung selbst auf dieser Seite der Medaille doch wieder funktionieren lässt: Die Zigarette gewährt dem/der Überforderten einen kurzen Aufschub, zögert die Entscheidung hinaus, die entspannende Wirkung des Nikotins erleichtert das Nachdenken über die Alternativen. Die Zigarette als Ressource, das Rauchen als Modus des Entscheidens.
So verstanden, konfrontiert das Plakat seine/n Betrachter/in mit der Zumutung des Entscheidens, um ihm/ihr sogleich das Gegenmittel an die Hand zu geben. Anders als bei Aldi besteht es hier jedoch nicht in der radikalen Befreiung vom Entscheiden und der damit verbundenen Überforderung, sondern in einem ‚Werkzeug‘ zu ihrer Bewältigung.
Die Zigarette ist dann nicht mehr bloßes Symbol, nur arbiträres Zeichen des freien Entscheidens, sondern sie hat ihren konkreten Platz darin, sie steht damit in unmittelbarer Berührung, kann geradezu als ein Index des Entscheidens gelten. Anders gesagt: Wo Rauch ist, ist auch Entscheiden. Das mag arg um die Ecke gedacht wirken, fügt sich als Lesart des Plakats aber in einen kulturellen Kontext, in dem Entscheider aus Politik, Wirtschaft, Künstler- und Mafiafilm nicht selten mit Zigarette oder Zigarre auftreten, oder zumindest einmal auftraten. Man denke an Figuren wie Helmut Schmidt, der als Paradebeispiel nicht nur für die Stilisierung eines Politikers zum tragisch-heroischen Entscheider betrachtet werden kann, sondern auch für die Inszenierung eines eigensinnig-heroischen Widerstands gegen – vermeintlich individuelle Freiheiten beschneidende – Rauchverbote.
Entscheiden als Risiko
Wenn sich analog dazu die Kampagne als trotzige Antwort auf Freiheiten einschränkende Werbeverbote gibt, lässt dagegen eine Kritik nicht auf sich warten, die den Konnex von Freiheit und Nikotin nicht nur als arbiträr, sondern gleich als widersprüchlich entlarvt wissen will:
Vor allem die zögerliche Jugend soll sich entscheiden – natürlich für das Rauchen, wenn sie mit sich und dem Erwachsenwerden ringt. Später dann kommt die Sucht von ganz allein. Unfreiheit bis zum Nikotinpflaster. Also, liebe Leute von Marlboro. Lasst unsere Jugend in Ruhe. Redet ihnen keine Freiheit ein, die sie nicht haben. Nervt uns nicht mit euren Lügen. Sucht ist keine Entscheidung,
predigt der Theologe Eckard Raabe in einem Video-Kommentar der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Er bleibt dabei allerdings im „Entscheiden = Freiheit“-Paradigma der Werbung, ja definiert Entscheiden über die Freiheit, begründet er doch sein Verdikt „Sucht ist keine Entscheidung“ damit, dass Abhängigkeit Unfreiheit bedeute.
Es ließe sich leicht entgegnen, dass die Plakate nun gerade mit der Vorstellung arbeiten, wirkliche Freiheit hieße, sich auch gegen das gesundheitlich Vernünftige und sozial Erwünschte entscheiden zu können. Der/die rebellische Raucher/in, der/die wider besseren Wissens und gegen alle Ermahnungen zur Zigarette greift, um damit zu affirmieren, dass er/sie die Freiheit dazu hat. Helmut-und-Loki-Schmidt-Style eben.
Der davon Angesprochene, ja gewissermaßen »erweckte« wird auch die raffinierte List, dem gesellschaftlichen, juristischen Verbot ein sublimes ikonographisches Schnippchen geschlagen & ihn als Mitwisser dabei erreicht zu haben, als subtile Steigerung seiner Lust genießen, individuell auf das Verbotene scharf zu sein, für das sich zu entscheiden man ihn unausgesprochen aufgefordert hat. […] Heute ist der allgemein gehaltene Appell an den individuellen Eigensinn der ultimative Reizstoff, um die letzten Raucher bei der Stange zu halten,
schreibt Wolfram Schütte, der in einem Blogbeitrag die Marlboro-Plakate ausdrücklich aus ästhetischer und nicht aus moralischer Perspektive betrachtet und sie dabei in den Kontext gesetzlicher Einschränkungen für Tabakwerbung einordnet.
Ohne nun selbst in die Debatte einzusteigen oder sich gar für eine der Seiten zu entscheiden, kann man festhalten, dass sich an ihr nicht nur die gesellschaftliche Verhandlung des Zusammenhangs von Entscheiden, Freiheit und Individualität exemplarisch beobachten lässt, sondern am ‚problematischen‘ Produkt Tabak auch der zweite Aspekt augenfällig wird, der Entscheiden zur Zumutung werden lassen kann: Das Risiko.
Durch die gesetzlichen Vorgaben gehören der Hinweis „Rauchen kann tödlich sein“ sowie die Angaben zu Nikotingehalt etc. automatisch zum Plakatdesign. Anders als bei anderen Tabakreklamen, die mit Fotos oder Illustrationen arbeiten, sticht die schwarze Schrift, so klein sie auch gehalten sein mag, gegen das Weiß hervor. Auf dem sonst beinahe leeren Poster wird sie zu einem markierten Element des Gesamttexts der Werbung. Das Risiko der Entscheidung, zu rauchen, wird betont präsent gehalten.
Auch dafür lassen sich wieder zwei Lesarten anführen: Zum einen im Sinne des positiv besetzten Entscheidens als „No risk, no fun„. Die Entscheidung gewinnt ihren Reiz erst dadurch, dass etwas auf dem Spiel steht. Tatsächlichen Wert hat die Freiheit nur, wenn sie nicht beliebig vorhanden ist, sondern man sie gegen etwas behaupten muss. Man zelebriert das freie, selbstbestimmte Leben gerade indem man es einsetzt, statt es auf Rat anderer ängstlich zu behüten – denn dann wäre es schließlich nicht mehr frei und auch nicht selbstbestimmt. Wer raucht, riskiert zu sterben, wer nicht raucht, riskiert, nicht zu leben, so die Logik dahinter. Jede Option birgt ihre Risiken, ihre Unwägbarkeiten und ihre Chancen, die Probleme der anderen zu vermeiden. Das macht die Sache in vielen Entscheidenskonzepten überhaupt erst zur Entscheidung: Mit der Auswahl einer Option ihre Risiken einzukaufen und die Chancen der anderen abzusondern. Einen Schnitt zu machen, eine decisio eben, nach der zwar das Wissen um die Möglichkeiten der anderen Option erhalten bleibt, diese aber erst einmal nicht mehr zur Verfügung stehen. Wer eine Zigarette raucht, hat seine Lunge nun einmal mit Schadstoffen belastet und kann das nicht ohne weiteres zurücknehmen.
Wenn sich darüber auch so etwas wie individuelle Verantwortung konstruieren, zuschreiben und im Sinne von eigenem ‚Verdienst‘ feiern lässt, so kann diese Verantwortung in der zweiten Lesart ebenso Last sein, die getragen werden will und unter der man mit Raucherlunge leicht aus der Puste kommt. Sobald die Risiken eintreten, fungiert die Entscheidung auch als Dispositiv der Schuldzuweisung, sie bedarf der Rechtfertigung. Zeigen sich gesundheitliche Probleme aufgrund des Tabakkonsums, heißt es gleich: Man hätte sich ja auch entscheiden können, nicht zu rauchen.
(Umgekehrt funktioniert das natürlich auch, wenn sich z.B. der/die Traumpartner/in in den Raucherpausen in eine/n andere/n verliebt. Tja, man hätte sich ja auch entscheiden können, zu rauchen.)
Entscheiden unter diesen Umständen: Tatsächlich eine Zumutung.
Ja / Nein / Kunst
Gerade weil Zigaretten inzwischen ein gesellschaftlich kontroverses Produkt sind, kann man an einer Werbung dafür, die den Entscheidensdiskurs ins Spiel bringt, gut beobachten, wie dieser sich derzeit gestaltet. Schon an den beiden exemplarisch zitierten Reaktionen lässt sich ablesen, was als Entscheidung gilt oder behauptet wird, welchen Phänomenen das abgesprochen wird, was das mit Freiheit, Individualität, Risiko und Verantwortung zu tun hat, ob Entscheiden überhaupt wünschenswert ist und nicht zuletzt: was in einer Kultur als entscheidbar oder entscheidensbedürftig markiert wird. Blättert man etwa durch Zeitschriften der 1950er Jahre, die eine Fülle ganzseitiger Zigarettenreklamen enthalten, so stellt sich dort nicht primär die Entscheidensfrage, ob rauchen oder nicht, sondern nur, welche Marke. Dass der/die Leser/in raucht, wird als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt.
Trotz der scheinbaren maximalen Offenheit des weißen „You decide“-Plakats spitzen dagegen sowohl Raabe als auch Schütte sowie andere Kommentator/innen heute die Entscheidung sofort auf die Binäropposition „Rauchen: Ja / Nein“ zu. Sicher, die stilisierte rote Marlboroschachtel in der Bildmitte wirkt wie das abstrahierte Symbol eines Scheidewegs. Genau zwei vorgefertigte Optionen, aus den unendlichen, diffusen Möglichkeiten des weißen Hintergrunds herauspräpariert. Man kann nur einen der beiden Wege beschreiten. Auch ist es unstrittig, dass Produktwerbung in erster Linie auf den Kauf des Produkts abzielt. Die Tabakindustrie übernimmt für uns einen zentralen und sensiblen Schritt im Entscheidensprozess, der doch als vermeintlich frei suggeriert wird: Die Konstitution der Entscheidenssituation und die Herstellung der Optionen.
Und dennoch: Nimmt man die angebotene Fiktion der unendlichen Entscheidungsmöglichkeiten einfach einmal – vielleicht: bewusst naiv – als solche ernst und an, statt sie gleich naheliegend kritisch zu durchschauen und als „Lüge“ abzutun bzw. als raffinierte Konstruktion zu bewundern, dann bleibt es doch unbenommen, jenseits der vordefinierten noch weitere Optionen auf das leere Plakat zu bringen. Wo in früheren Marlboro-Werbungen nur die weite Prärie als genau eine, eindeutige Alternative zur urbanen Umgebung des Plakats zu sehen war, öffnet sich darin nun prinzipiell dieser weiße Möglichkeitsraum. Dass er genutzt wird, zeigen Besipiele von Adbusting:
In der kreativen Appropriation der Plakate durch die Street-Artists wird aus „You decide“ ein „You die“. Betont wird noch einmal das Risiko des Rauchens, von der Aussage her ist der/die Künstler/in damit ganz auf der Linie der Kritik an Marlboro. Vom Verfahren her jedoch bleibt sie/er ganz auf der Linie der Fiktion des Plakats: Der angebotene Möglichkeitsraum wird genutzt – statt zum Rauchen oder dagegen, entscheidet man sich für eine dritte, selbsterstellte Option, nämlich Kunst daraus zu machen. Am Ende also doch: You decide?